Strategische Kommunikation statt Social Media
„2012: Das Jahr, in dem wir nicht mehr über Social Media reden.“ Ein gutes Jahr beginnt mit einer guten Headline. Ausgeborgt von einem der renommiertesten Online-Strategen Deutschlands, Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach. Der studierte Theologe und Journalist – und Online-Berater von Daimler, Microsoft, Deutsche Telekom, Nestlé, Duden u.a. – weiß, wovon er spricht.
Seine dazugehörigen 6 brillanten Thesen glaube ich alle. Was mich vor allem anspringt: Facebook soll 2012 die 50%-Marke überschreiten. Und der Siegeszug von HTML5 soll in diesem Jahr nicht nur das Ende vieler Flash- und statischen Webseiten bedeuten, sondern auch das Aus der meisten Apps. Das Web würde damit wieder zu dem, „was es sein sollte: Eine verbundene Sammlung von Inhalten aller Art, die auf allen möglichen Geräten angezeigt werden kann“, so Lünenbürger-Reidenbach.
Daher: Wenn die Mehrheit das Web bereits so nutzt, brauchen wir das nicht mehr länger als „Social Media“ dramatisieren. Was manche angeblich ja schon immer wussten. Wie zum Beispiel unser Online-Berater Ben Freundorfer, der zu meinem Entsetzen auch vor Kunden immer wieder fragte: „Social Media? Ich weiß bis heute nicht, was das ist.“
Aber zurück zum Thema. Was Lünenbürger-Reidenbach noch sagt:
• „Die Zielgruppen sind wieder da“ – und sie waren auch nie weg. Eh klar.
• Und der „digital divide“ würde abgelöst vom „private divide“, d.h. es wird zukünftig zwei Gruppen geben: Die einen, die einen Teil ihrer Privatsphäre bewusst aufgeben, um die Annehmlichkeiten von Facebook und anderen Services zu nutzen, und die anderen, die genau das nicht tun – und deshalb nur anders erreicht werden können.
Was bedeuten diese Entwicklungen für ein strategisches Kommunikationsverhalten?
Zielgruppen-Rhetorik
Zunächst einmal sind wir nach diesem Verständnis offiziell endlich wieder dort, wo wir im Grunde auch immer waren: in der „rhetorischen“ Kommunikation. Also in der strategisch wirkungsbewussten Ansprache von Zielgruppen.
Diese sollte nach meiner Empfehlung zukünftig
1. von Pädagogen so vermittelt und gelehrt,
2. von privaten Usern so verstanden und verwendet
3. und im Pro-Bereich von Profis entsprechend analysiert und umgesetzt werden.
Was leider noch zu wenig passiert.
Pädagogik
Die gut meinende technische Kommunikationsbegeisterung vieler Lehrer – etwa schon Volksschulklassen mit Tablet-PCs auszustatten – greift meist zu kurz. Sie entspringt oft dem eigenen schlechten Gewissen, in diesem Bereich zu wenig Bescheid zu wissen und geht so leicht an relevanten Inhalten vorbei. Die Schule muss keine technischen Gebrauchsanweisungen vermitteln – nicht fürs Fernsehen, nicht für Spiele und auch nicht wie Touchscreens oder PCs bedient werden. Der Gebrauch wird immer intuitiver und von Kindern schneller begriffen als von deren Lehrern.
Inhaltlich gäbe es allerdings viel zu sagen: Zum Beispiel, dass Inhalte im Web bestehen bleiben, dass ich bestimme, zu welchen Gruppen ich spreche – und demnach auch wie. Dazu sollten rhetorische Strategien, Ich-Abgrenzungen und Kommunikationswirkungen unterrichtet werden: Was ich z.B. riskiere oder gewinne, wenn ich mehr „privat“ oder mehr „öffentlich“ spreche, mit welchen Inhalten ich welche Zielgruppen erreiche und welche Kommunikationsgrenzen dafür wichtig und wirkungsvoll sind. Das wäre spannend. Rhetorik in der Unterstufe. Dass diese für das Web ebenso gilt wie sonst überall, ist praktisch nebensächlich.
User
Die große Masse der privaten User beherrscht diese Rhetorik (auch) im Web intuitiv und naturgemäß am besten. In unglaublicher Geschwindigkeit entwickelt sie dank trial and error Rhetorikformen, die zielgruppengenau funktionieren und sofort mit technischen Entwicklungen interagieren. Das ist neu und äußerst spannend. Tragische Einzelschicksale sind davon wie immer ausgenommen …
Professionelle Kommunikation
In einer professionellen Web-Kommunikation tun derartige Schicksale besonders weh. Eine Pro-Rhetorik befindet sich im guten Fall deshalb meist einen kleinen Schritt hinter der „Zeitrhetorik“. Sie kann sich das unbekümmerte trial and error nicht erlauben. Im schlimmsten Fall jedoch geht sie an der gefragten Rhetorik ganz vorbei. Das Negativ-Beispiel unseres Herrn Bundeskanzlers auf Facebook sei dafür stellvertretend nochmals genannt: Der Hauptirrtum seiner Berater lag in einer mehrfachen Verkennung der Zielgruppen und ihrer Spielregeln: beginnend bei der kontraproduktiven Fangenerierung bis hin zum unpassenden Sprachgestus, der sich naiv-amikal an eine Gruppe wandte, die in der Anfangszeit vor allem aus Kritikern und „Feinden“ bestand.
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